Graubünden Haute Route

Graubünden Haute Route: Prolog

Die Graubünden Haute Route, eine Skidurchquerung im Engardin mit Start am Julierpass über die Jenatsch Hütte, Es-Cha Hütte, Piz Kesch, Kesch Hütte, Grialetsch Hütte und Abfahrt durch das Val Sarsura startet mit einem Vorbereitungstreffen im JUZE in Penzberg.

Alle Teilnehmer der DAV Sektion Tutzing kommen zu diesem Treffen mit gepackten Rucksäcken. Unser Trainer Philippe zeigt uns die von ihm ausgetüftelte Route, erklärt die möglichen Gipfel und bereits reservierten Hüttenstützpunkte. Unser zweiter Fachübungsleiter Pit, Jenny und Conny aus Tutzing, Michi aus Kochel, Justus und Severin aus Penzberg und ich lauschen gespannt. Nach dem 30-minütigen Vortag geht es schon ans Eingemachte: effizientes Packen des Rucksacks für eine Durchquerung mit 4 Übernachtungen.

Wir klären das Mitschleppen von sicherheitsrelevanten Dingen wie Biwaksack, erste Hilfe Set und Steigeisen. Dann leeren wir vor allen anderen unsere Rücksäcke und besprechen jedes Teil. Wir amüsieren uns über Luxusgüter wie ganze Zahnbürstenstiele und Parfümflakons.

Der unterhaltsame Abend nimmt ein ernstes Ende durch Philippes Ankündigung: „Wer den schwersten Rucksack beim Start am Julierpass hat, muss das Seil tragen.“ Conny prophezeit sich selbst eine unruhige Nacht.

24

Februar 2023

Graubünden Haute Route: Die Durchquerung

Wir parken am Julierpass, es ist noch etwas Schnee für uns übrig und Philippe holt die Kofferwaage hervor. Unsere voll beladenen Rucksäcke vor Abmarsch befinden sich alle in einem Gewichtsbereich von 9-13 kg. Philippe ist mit uns zufrieden, grinst, trägt unsere 30 m Rapline, ein leichtes Gletscherseil. Pit schnappt sich das 40 m Einfachseil und erleichtert über diese glückliche Fügung ziehen wir unsere Skitourenski über stetig wachsende Schneereste gen Norden zum Piz Surgonda.

Überschreitung des Piz Surgonda

Am Piz Surgonda bekommen wir einen Vorgeschmack auf die nächsten 4 Tage durch Böen, Februarkälte und steile Abstiege. Jenny und Conny haben schon alle Handschuhe an und trotzdem kalte Pfoten. Wir steigen über den Westgrad des Gipfels ab, Philippe und Pit seilen uns von dort nördlich ins Kar ab. Der Umbau vom Skimodus in den Hüftgurt-Klettermodus läuft noch schleppend, wird die nächsten Tage so oft wiederholt, bis es flutscht.

Im Nordhang liegt mehr Schnee und der Nebel nimmt zu. Justus verliert bei den ersten Schwüngen in der Abfahrt seinen Pickel, Pit hilft ihm suchen. Während wir Wartenden 60 Minuten als endlose Periode empfinden, vergeht die Stunde für die beiden im Suchmodus wie im Flug. Der Pickel ist im Whitout verloren, wir sind froh, dass Justus den Sturz gut überstanden hat und fahren gemeinsam zur ersten Hütte – der Chamanna Jenatsch.

Wir werden herzlich begrüßt, bekommen eine Schüssel Graupensuppe, Curry mit und ohne Fleisch, Dessert, die Stimmung am Tisch ist fantastisch. Wir lernen uns langsam kennen und fallen glücklich in einen allgemein durchwachsenen Matratzenlagerschlaf.

25

Februar 2023

Übergang zur Chamanna d’Es-Cha

Am zweiten Tag erlaubt uns die vorherrschende Lawinenlage die Querung des Piz Jenatsch Massivs. Den Piz Lawiner lassen wir links liegen und nehmen die rasante und 1500 HM lange Abfahrt nach Preda in Angriff. Von dort nutzen wir die Schweizer Bahn und steigen in Madulain 1000 Höhenmeter zur zweiten Hütte, der Chamanna d’Es-Cha, auf.

Nicola, der Hüttenwirt hat gute Nachrichten für uns: es wird Nachspeise geben, obwohl keine kleinen Löffel auf den Tischen liegen. Die Bedingungen am Piz Kesch sind rau, lassen aber einen Gipfelversuch offen. Nicola trägt ein Cap mit Hoodie. Seine Finger sind muskulös und an vielen Stellen demoliert. Ich tippe auf Tischler Hände. Er empfiehlt uns für den Anstieg auf den Piz Kesch, meist am Nord-Ost Grat zu bleiben und nur selten in den Hang zu queren.

26

Februar 2023

Gipfeltag mit Piz Kesch

Am dritten Tag starten wir um kurz vor halb 9 Uhr bei -10° und Wind zur Porta d’Es-Cha. Es liegt so wenig Schnee in diesem Übergang, dass wir die Eisenketten aus dem Sommer zum Klettern benutzen können.

Wir gehen weiter über den Gletscher Vadret da Porchabella in Vollmontur mit Daunenjacke und dicken Handschuhen. Am Skidepot des Piz Kesch kommt uns ein Bergführer mit seinem Gast entgegen. Wir sind allein im Aufstieg zum Piz Kesch. Die ersten 100 Höhenmeter der insgesamt 200 Höhenmeter Kraxelei gehen wir mit Pickel und Steigeisen.

Jetzt folgt eine steile Querung. Philippe legt uns ein Geländerseil und Pit verlängert es mit seinem Seil, um die 70 m optimal zu nutzen. Sobald wir alle nachgestiegen sind, schließt Pit als Schlusslicht auf. Conny muss ihre Daunenfäustlinge ausziehen, um gut klettern zu können. Severin und Justus warten in stoischer Ruhe ab, bis Jenny, Conny und ich außer Sichtweite sind und klettern dann routiniert hinterher. Sie haben beide ihre Halstücher so hoch ins Gesucht gezogen, dass ich nur ihre Augen hinter einer Sonnenbrille versteckt sehe. Hinter ihnen leuchtet Michi in seiner roten Daunenjacke und seine Eiszapfen im Schnurrbart wachsen stetig.

Jennys Hände schmerzen. Sie verzieht ihr Gesicht und ich biete ihr an, dass sie ihre Hände in meinen Achseln wärmt. Sie lehnt dankend ab, weil sie weiß, dass ich aus Gewichtsgründen auf ein Deo verzichtet habe.

Kurz vor dem Gipfel erreichen wir die Schlüsselstelle am Grat. Philippe klettert voraus und befestigt diesmal ein Fixseil an dem wir uns sichern und hochziehen können. Die letzten Meter meistern wir ohne Seil.

Erfolgreiche Gipfelbesteigung

Es ist unglaublich: wir stehen nach 3 Stunden Kletterei bei -12°C und Wind (also gefühlt wohl -20°C) auf dem 3417 m hohen Piz Kesch. Die Wolkendecke reißt immer mal wieder auf und gibt die Berge der Albula und Rätischen Alpen für uns frei. Im Süden liegt die Bernina Gruppe. Pit kennt sie alle, ist jedoch am Gipfel verhalten still – ich glaube, er friert.

Gemeinsam steigen wir zum Teil mit Seilsicherung auch wieder ab. Eine steile Felsstufe lässt uns Philippe einzeln ab. Der Rest geht im Abstieg deutlich schneller.

Stolz wie Bolle stehen wir in der letzten Abfahrt zur Keschhütte vor „unserem“ Piz Kesch. Die Keschhütte ist modern, unser Lager ist neu und duftet nach Holz. Wir kommen eine Stunde vor dem Abendessen an und prosten uns mit Bier und Apfelschorle zu. Connys Fingerkuppen sind weiß und wir können erst einmal nichts tun.

27

Februar 2023

Durch das Val Funtana zur Grialetschhütte

Der vierte Tag startet entspannt nach einem Bündner Frühstück wieder gegen 8:30 Uhr und wir wandeln durch eine flache Winterlandschaft durch das Val Funtauna. Die Spannung des vergangenen Gipfeltages fällt ab und wir freuen uns über wärmende Sonnenstrahlen im Gesicht.

Kurz unterhalb des Scalettahorns entscheidet Philippe aufgrund von zu viel Triebschnee umzudrehen. Also peilen wir direkt den etwas östlich gelegenen Sattel an, um nach Norden ins Gletschertälli abzufahren. Langsam und hintereinander in Abständen fahren wir den steilen Nordhang ab. Niemand darf jetzt stürzen.

Wenig später sind wir erleichtert und glücklich zugleich über diese pulvrige Traum-Abfahrt.

Die Grialetschhütte wurde während COVID aufwändig saniert und vereint moderne Schweizer Architektur mit altem Holzgebälg. Diese Kombination macht die Hütte zu einem Kunstwerk. Und dann ist da noch die netten Hüttenwirtin, deren wichtigstes Anliegen es ist, dass die Gäste satt werden.

28

Februar 2023

Piz Sarsura und Abfahrt durch das Val Sarsura

Unser letzter Tag führt auf den Piz Sarsura. Es geht über eine steile Schneeflanke zum vorgelagerten Plateau des Berges. Wir steigen ein paar Höhenmeter weiter und nehmen den letzten Gipfelgrat in Angriff.

Im Val Sarsura liegt noch genug Schnee, sodass wir sehr weit abfahren können. Die letzten Meter nehmen wir zu Fuß. Wir schicken Conny und Philippe per Anhalter und Zug zu unseren beiden Autos und gehen mit Ski und Rucksack auf den Schultern bis nach Zernez zum Bahnhof. Die Wartezeit auf die beiden Autofahrer verkürzen wir mit Bündner Rösti und strecken die Beinchen aus.

Graubünden Haute Route: Epilog

Niemand weiß, wie sehr Pit am Piz Kesch gefroren hat. Er kauft sich unmittelbar nach der Tour eine Isolationsjacke. Connys Finger waren noch ein paar Wochen lang taub, sind aber jetzt wieder gut durchblutet.

Text: Christl