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Juli 2021
Es gibt mindestens zwei gute Gründe, warum der 24. Juni 2021 ein besonders guter Tag ist: zum einen ist in sechs Monaten Weihnachten und zum anderen starten wir in unseren Mountainbikeurlaub in die Schweiz.
Binnen fünf Tagen wollen wir von Romanshorn am Bodensee 300 km und 7.000 Höhenmeter durch die Schweiz zum Vierwaldstättersee radeln. Die Route verläuft durch die Kantone Thurgau, Zürich, St. Gallen, Glarus und Schwyz und ist der erste Teil des insgesamt 1.000 km langen Mountainbikerennens mit dem Namen „HOPE 1000“. Seit 2015 findet fast jährlich dieses Ausdauersportevent statt und führt Mountainbiker mit über 30.000 Höhenmetern vom Bodensee zum Genfer See.
Die Regeln sind einfach: Begleitfahrzeuge oder irgendeine Hilfe von außen ist nicht gestattet. Die öffentliche Schweizer Infrastruktur mit Restaurants, Unterkünften und Radwerkstätten dürfen genutzt werden. Die Fahrer müssen die ganze Strecke alleine und ohne jegliche Antriebshilfen fahren. Der Fairness habler ist es nicht erlaubt unterwegs Familie oder Freunde zu besuchen.
Wir folgen nun dieser Route mit dem Start im Nordosten der Schweiz außerhalb des Wettkampfs. Der offizielle Start wurde bereits eine Woche vor dem 24.06. angepfiffen und wir haben die Wege für uns. Anfangs geht es durch das Alpenvorland des Kantons Thurgau über sanfte Hügel und saftige Wiesen. Meine Beine sind frisch und pedalieren locker durch das Schweizer Mittelland.
Dieses Mal navigieren wir uns entlang des Tracks der HOPE 1000 mit Philippes Sportuhr. Er schnallt sie um den Lenker und erhält Navigationshinweise. Weil das Uhrendisplay weniger Energie als das Smartphonedisplay benötigt, kann es den ganzen Tag den Weg weisen. Wir verpassen keine Abzweigungen mehr und pflügen uns ohne Umwege durch Wegenetze und Ortskerne.
Ab Tag 3 wird es deutlich steiler, weil wir auf der Grenze zwischen den Kantonen Zürich und St. Gallen im Tössbergland immer weiter in die Berge gen Appenzeller Alpen treten. Wir radeln an den Bergen Hirzegg, Schnebelhorn und Tweralpspitz vorbei nach Wattwil. Dort belegen wir eine Parkbank in der Stadt. Philippe ölt unsere Ketten und ich stöckle mit Fahrradschuhen durch die Fliesengänge des Supermarkts: Müsliriegel, Nüsse, Brot, Käse, Salami, Schokokekse stehen täglich auf der Einkaufsliste. Auch ein Schweizer Glace mit mindestens zwei Kugeln darf bei einer solchen Pause nicht fehlen.
Wir sind mit einer Lenkertasche und einer Satteltasche bepackt und tragen kleine Fahrradrucksäcke. Zwischen Lenker und Oberrohr sitzt eine kleine Tasche, die wir Futterbox nennen, weil darin soviele Müsliriegel geschichtet sind, dass gerade noch der Reißverschluss geschlossen werden kann. Philippe hat außerdem noch eine Rahmentasche zwischen Getränkeflaschen und Oberrohr. Wir haben unser Zelt und den Kocher dabei, einen Sommerschlafsack und eine Matte. Die Satteltasche versuchen wir mit 3 kg so leicht wie möglich zu beladen, damit das Rad abwärts nicht so wackelt. In der Lenkertasche hat bei mir Kocher und Essen Platz, bei Philippe werden unter anderem Stativ und Akkus geschlichtet. Unsere beiden Getränkeflaschen befinden sich am Rahmen und wir finden in Dörfern oder Bergbächen immer eine Möglichkeit Wasser nachzufüllen. Wir fahren so weit, wie wir wollen und suchen uns dann einen Zeltplatz für die Nacht.
Ab Wattwill schrauben wir uns in Serpentinen in den Appenzeller Alpen über das Gössigenhöchi und das Hinter Höhi. Der Säntis ist leicht mit Schnee bedeckt und wenn wir Richtung Glarner Berge blicken, sehen wir noch mehr schneebedeckte Gipfel. Ende Juni ist das hier normal. So weit in die hohen Berge hinein werden wir allerdings nicht radeln, sondern uns bald gen Westen halten. Manche Wege sind so steil und steinig, dass ich absteige, um zu schieben. Ich denke an die Mountainbikerinnen bei HOPE 1000 und frage mich, ob sie diese Rampen fahren können.
Andere Wege führen über Viehweiden mit Grasinseln und ausgetrampelten Kuhlöchern, die mit Regenwasser gefüllt sind. Wir treten davor in die Pedale, holen Schwung, halten den Lenker fest und rollen mit wackelnden Taschen geradeaus darüber.
Wir düsen 1.000 Höhenmeter über Amden zum Walensee in die Tiefe und müssen so stark bremsen, dass die Zeigefinger schmerzen. Links und rechts wenden die Bauern auf Steilhängen das Gras für ihr Vieh. Teils händisch, teils mit Traktoren arbeiten sie bei 30 prozentiger Hangneigung mit Gummistiefeln und Kopfbedeckung.
Für einen kurzen Moment können wir in die Glarner Alpen blicken, halten uns aber gen Westen und erreichen die Schwyzer Alpen. Wir fahren zum Chöpfenberg hinauf und gelangen zum Sihlsee nach Einsideln. Jetzt geht es nur noch bergab nach Brunnen am Vierwaldstättersee. Wir haben unser Ziel erreicht. Das Wasser ist blau-türkis wie die Farbmischung von Berg und Wald. Wir springen in die Fluten und schwimmen mit den Enten um die Wette.
Als wir am Ufer sitzen und Abend essen, realisieren wir, dass die schnellsten Teilnehmer von HOPE 1000 für unseren Abschnitt vermutlich keine 24 Stunden gebraucht haben.
Text: Christl